Narzißmus, radikale Wertkonflikte, Spaltung -
Die Unfähigkeit, zu lieben
In Werther, Tasso, Faust, hat Goethe narzißtische Gestalten geschaffen. Narzißmus wird von mir in Anlehnung an Wurmser (1987, 1989) als quantitativer Begriff benutzt. Er bedeutet ein Zuviel an Machtanspruch oder Selbstgefühl, an Liebe oder an Haß, ein Zuviel an Wertschätzung des anderen oder an Selbstbewunderung. Der Narzißmusbegriff ist also ein Maßurteil und bezieht sich auf etwas Unmäßiges oder Maßloses.
Für die Genese ist ein Über-Ich verantwortlich, das absolute Normen und Werte setzt und durchzusetzen versucht. Die Absolutheitsforderungen des Über-Ich, das kategorische Urteil führt dann zur Identitätsspaltung: Ein Über-Ich-Teil, der mit der Außenwelt verbündet, unablässig auf Anpassung und Konformität drängt, hat einen anderen Über-Ich-Teil, der z.B. auf seinen eigenen mehr autonomen Werten beharrt, ge-stürzt. Dieser zweite regressive Über-Ich-Teil manifestiert sich in narzißtischen Phantasien und massiven Selbstverurteilungen für alle Zeichen der Verwundbarkeit oder Schwäche.
Die Abwehr all dessen, was nicht zum herrschenden Ideal paßt, z. B. durch Verleugnung, führt in diesem Kampf zum Aufbau eines Gegenideals, das ebenfalls Absolutheitscharakter erhält.
Damit können wir die Charakterpaare in Goethes Dichtungen deuten als „angepaßten und regressiven" Über-Ich-Teil oder als Ideal und Gegen-Ideal. Sie bilden damit den besten Beweis für Goethes narzißtische Problematik.
Fragen wir uns nach der historischen Genese dieser Identitätsstörung bei Goethe, so erinnern wir uns seines Vaters, Johann Caspar Goethe, in dessen Händen Goethes Erziehung bis zu seiner Universitätszeit in Leipzig lag - Beginn 1765, als Goethe 16 Jahre als war.
Johann Caspar Goethe hatte nach Abschluß seines Jura-Studiums und dem einmaligen, vergeblichen Versuch, ein öffentliches Amt in seiner Vaterstadt Frankfurt zu erlangen, sich ins Privatleben zurückgezogen und sich die Erziehung des Sohnes Johann Wolfgang (und dessen Schwester Cornelia) zur Lebensaufgabe gemacht.