Mit Goethes Worten an Frau von Stein:


d. 28. jun. 84.
... „Ich bin kein einzelnes, kein selbständiges Wesen. Alle meine Schwäche habe ich an dich angelehnt, meine weichen Seiten durch dich beschützt, meine Lücken durch dich ausgefüllt. Wenn ich nun entfernt von dir bin, so wird mein Zustand höchst seltsam. Auf einer Seite bin ich gewaffnet und gestählt, auf der andern wie ein rohes Ei, weil ich versäumt habe, mich zu hämischen wo du mir Schild und Schirm bist." (WA IV, 6, 319)


Eine so starke, überlegene Frau mußte dem Narzißten Goethe Angst machen, Angst vor dem Selbst-Verlust, vor dem Verschlungenwerden. Die Angst wurde aber durch die Distanz gemildert, die sich aus Frau von Steins Status als verheirateter Frau ergab.
In der Beziehung zu Christiane Vulpius war diese Distanz nicht nötig. Sie war so viel jünger als Goethe, gesellschaftlich und bildungsmäßig so weit unter ihm stehend, daß ihm hier eine intime Beziehung möglich war.
Die hübsche, mittelgroße Dreiundzwanzigjährige mit dem unfrisierten Lockenkopf wurde bald nach der ersten Begegnung (1788) Goethes „Bettschatz" und viele Jahre später (1806) seine Ehefrau. Zeitlebens aber bleibt sie Goethe Untertan. Bis an ihr Ende hat Christiane Goethe nie anders als Herr Geheimrat bezeichnet (Friedenthal, ibid., 328)
Sie hat wenig Geistiges und Goethe genießt das:


Indes macht draußen vor dem Tor,
Wo allerliebste Kätzchen blühen,
Durch alle zwölf Kategorien Mir
Amor seine Spaße vor.


Von Goethes Interessen, seinen Dichtungen, hat sie nie etwas verstanden. Bei ihr behielt er seine Unabhängigkeit.
Christiane starb mit 51 Jahren, nachdem sie ihm fünf Kinder geboren hatte, die bis auf den Sohn August tot geboren waren oder sogleich nach der Geburt starben.
Goethe lag zur Todeszeit Christianes an einem Katarrh erkrankt. Er hat Christiane nicht mehr gesehen. In sein Tagebuch vermerkt er am 6. Juni 1816:


„Gut geschlafen und viel besser. Nahes Ende meiner Frau. Letzter fürchterlicher Kampf ihrer Natur. Sie verschied gegen Mittag. Leere und Totenstille in und außer mir. Ankunft und festlicher Einzug der Prinzessin Ida und Bernhards. Hofrat Meyer. Riemer. Abends brillante Illumination der Stadt. Meine Frau um zwölf nachts ins Leichenhaus. Ich den ganzen Tag im Bett." (WA III; 5, 239)

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