mäßig, aber doch in dürftiger und selbsterniedrigender Weise, so daß man zu dem Schluß kommt, sie behandelten sich auch nicht besser als ihre Bezugspersonen (van der Waals, zitiert nach Kernberg 1979, 311).
Diese Züge des Liebeslebens des Narzißten finden sich sowohl bei Faust als auch bei Goethe. Somit erklärt sich deren Scheitern in Beziehungen aus ihrer narzißtischen Charakterstruktur.
Die geschilderten radikalen und unversönlichen Wertkonflikte und die gespaltene Identität sind auch charakteristisch für die eingangs erwähnte „Kassandra-Konfiguration", mit der Goethes Neurose beschrieben werden kann.
Ihr phobischer Kern ist in seiner Genese, wie früher dargestellt (Linden, ibd=), auf Goethes Mutter und das Kindheitstrauma der Geburt der Schwester zurückzuführen. Die gespaltene Ich-Identität hingegen weist, wie hier beschrieben, auf die absoluten, idealistischen Normen verpflichtete Erziehung durch Goethes Vater.
Zum Abschluß noch ein Gedanke an Goethes Liebes-Lyrik. Es mag befremden, daß der Schöpfer der schönsten Liebesgedichte der Weltliteratur zu einer eigenen tiefen Partnerbeziehung unfähig war. Zu diesem scheinbaren Widerspruch äußert sich Goethe selbst in einem Brief an Karl August (1775) über Lili Schönemann:


Holde Lili, warst so lang
All mein Lust und all mein Sang
Bist nun all mein Schmerz, und doch
All mein Sang bist du noch


Zusammenfassung

Die Spaltung der Ich-Identität bei Goethe, die ihren Ausdruck in Goethes Liebesleben und in Charakter-Paaren seiner Dichtung findet, wird beschrieben und als Zeichen einer frühen Störung und Folge narzißtischer Abwehr interpretiert. Die Genese der Störung wird an Hand von Goethes Kindheit dargestellt, wobei den absoluten Normen und damit verbundenen Wertkonflikten in Goethes Erziehung besondere Bedeutung beigemessen wird.

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