Letztlich kommt es durch die tragischen Ereignisse nicht zur dauerhaf-ten Verbindung zwischen Marie und Clavigo. Ich werde dies Motiv, daß sich bei Gretchen und Helena wiederholt, in Bezug setzen zu Goethes innerer Unfähigkeit in jenen Jahren, eine dauerhafte sexuelle Beziehung einzugehen.
Es war ja die Zeit von Goethes Verlobung mit Lili Schönemann, „der einzigen Frau in seinem Leben, die alle Voraussetzungen erfüllte, um seine Frau zu werden" (Eissler, ebd., S. 161). Goethe entzog sich seiner Braut bekanntlich durch die Flucht nach Weimar im November 1775. Wir kommen darauf zurück.
Auch Fausis Gretchen spiegelt Goethes Obsession von der Schwesterproblematik in Cornelias kurzer Ehezeit von 1773-1777. Goethe hatte ja sein Faust-Manuskript schon 1775 nach Weimar mitgebracht. Allerdings sind im Faust Goethes Wünsche auf den Verführer Faust und den rächen-den Bruder Valentin aufgespalten. Der Soldat Valentin hatte sich bis zu Gretchens Liebschaft mit Faust gern mit seiner tugendhaften Schwester geschmückt:
„Wenn ich so saß bei einem Gelag,
Wo mancher sich berühmen mag,
Und die Gesellen mir den Flor
Der Mägdlein laut gepriesen vor,...
Saß ich in meiner sichern Ruh,
Hört all dem Schwadronieren zu,...
Und sage: alles nach seiner Art!
Aber ist eine im ganzen Land,
Die meiner trauten Gretel gleicht,
Die meiner Schwester das Wasser reicht?" (WA I, 14, S. 184)
Man beachte das Possessivpronomen, das insbesondere in der vorletzten Zeile für die Aussage eines Bruders ungewöhnlich ist. Der Verlust der Schwester an Faust wird von Valentin als narzißtische Kränkung erlebt und führt zu einem Ausbruch zerstörerischer Wut. Bekanntlich wird Valentin von Faust im Zweikampf getötet (eine Szene, die im Urfaust allerdings noch nicht enthalten ist).