Hier ist die Rivalität mit dem Bruder und ihre Überwindung durch Identifikation mit einem Elternteil, wohl mit dem Vater, der die Erziehung und Ausbildung der Kinder leitete, ganz offensichtlich.
Eissler (1983, S. 117) schreibt hierzu in seinem so kenntnisreichen und scharfsinnigen Buch ,goethe - eine psychoanalytische Studie4;
„Wieder begegnen wir der überragenden Identifikation mit dem Handeln von Erwachse-nen. Eifersucht wird dadurch überwunden, daß er sich zum angehenden Lehrer macht. Jahre später wurde Goethe der Lehrer, Freund und Präzeptor eines regierenden Fürsten, der acht Jahre jünger war als er."
Zurück zu Cornelia Goethe. Sie wurde mit dem Bruder vom Rat Goethe erzogen und ausgebildet, der selbst nie berufstätig, vom ererbten Vermögen lebend, die Erziehung der Kinder (neben seinen Sammlun-gen) zum Mittelpunkt seines Lebens gemacht hatte.
In der gemeinsamen Ausbildung mit dem Bruder lag aber nach der Auffassung von Sigrid Damm (1988) die Tragik des Lebens der Cornelia Goethe begründet, da sie wissenschaftlich und kulturell für eine Tätig-keit vorbereitet wurde, die in der damaligen Zeit einer Frau nicht offen-stand.
Die Gemeinsamkeit der Geschwister währte bis zu Goethes Abreise zum Studium in Leipzig 1765. In diesen Jahren hatten die Geschwister sich immer enger aneinander gebunden in zärtlicher Vertrautheit. Diese Geschwisterliebe bekam in der Pubertät eine stark erotische Färbung, die Goethe in ,Dichtung und Wahrheit so schildert (WA I, 27, S. 22)1:
„Und so wie in den ersten Jahren Spiel und Lernen, Wachstum und Bildung den Geschwi-stern völlig gemein war, so daß sie sich wohl für Zwillinge halten konnten, so blieb auch unter ihnen diese Gemeinschaft, dieses Vertrauen bei Entwicklung physischer und morali-scher Kräfte. Jenes Interesse der Jugend, jenes Erstaunen beim Erwachen sinnlicher Triebe, die sich in geistige Formen, geistiger Bedürfnisse, die sich in sinnliche Gestalten einkleiden, alle Betrachtungen darüber, die uns eher verdüstern als aufklären ... manche Irrungen und Verirrungen, die daraus entspringen, teilten und bestanden die Geschwister Hand in Hand und wurden über ihre seltsamen Zustände um desto weniger aufgeklärt, als die heilige Scheu der nahen Verwandtschaft sie, indem sie sich einander mehr nähern, ins Klare treten wollten, nur immer gewaltiger aus einander hielt".
1 Goethes Werke sind nach der Weimarer Ausgabe (WA) zitiert: Hermann Böhlaus Nachf., Weimar (1887-1919).