„Zu der kleinen Schwester Cornelia hatte er, da sie noch in der Wiege lag, schon die zärtlichste Zuneigung, er trug ihr alles zu und wollte sie allein nähren und pflegen und war eifersüchtig, wenn man sie aus der Wiege nahm, in der er sie beherrschte, da war sein Zorn nicht zu bändigen, er war überhaupt viel mehr zum Zürnen wie zum Weinen zu bringen."

Johann Wolf gang Goethe ist als erstes Kind am 28. August 1749 ein Jahr nach der Heirat seiner Eltern geboren. 15 Monate später, am 7. Dezember 1750, erfolgte die Geburt der Schwester Cornelia.
Die Geburt eines Geschwisters ist insbesondere für das Einzelkind immer ein einschneidendes Ereignis, ja ein Trauma. Ob und wie dieses primär immer traumatische Erlebnis die psychische Entwicklung des Erstgeborenen nachhaltig beeinflußt, hängt natürlich von vielen Bedin-gungen ab. Dabei spielen die BewältigungsStrategien des Kindes sicher eine große Rolle. Johann Wolfgang blieb zwar Zeit seines Lebens der „Hätschelhans" seiner Mutter. Trotzdem wird er sich durch den Neuankömmling entthront gefühlt haben. Diese narzißtische Kränkung, seine ohnmächtige Wut und seinen Haß auf Schwester und Mutter bewältigte Goethe in der Identifizierung mit der nährenden Mutter.
Bezeichnend ist aber, daß Goethe seine Schwester besitzen, „beherrschen" wollte. Hier zeigt sich erstmals der analsadistische Zug der Beziehung, der diese bis zu Cornelias Tod charakterisierte. Vorgreifend sei schon hier gesagt, daß Goethe mit der Verheiratung der Schwester an seinen Freund Johann Georg Schlosser, als Cornelia gewissermaßen in den „Besitz" eines anderen Mannes überging, die Beziehung fast völlig abbrach. Die „Zärtlichkeit" war also nur eine Seite einer zumindest von der Seite des Bruders höchst ambivalenten Geschwisterfreundschaft.
Auch Goethes Beziehung zu seiner Mutter blieb ambivalent und ent-behrte nicht sadistischer Züge. Davon wird noch die Rede sein.
Drei weitere Geschwister Goethes starben früh. Über Goethes Verhalten beim Tod seines Bruders Jakob schrieb Bettina (ebd., S. 419f.):

„Sonderbar fiel es der Mutter auf, daß er bei dem Tod seines jüngeren Bruders Jakob, der sein Spielkamerad war, keine Träne vergoß. Er schien vielmehr eine Art Ärger über die Klagen der Eltern und Geschwister zu haben, da die Mutter nun später den Trotzigen fragte, ob er den Bruder nicht lieb gehabt habe, lief er in seine Kammer, brachte unter dem Bett hervor eine Menge Papiere, die mit Lektionen und Geschichtchen beschrieben waren; er sagte ihr, daß er dies alles gemacht habe, um es dem Bruder zu lehren."

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