Tiedemann: Zu Goethes »Auerbachs Keller«

Da ward ein roter Leu, ein kühner
Freier,
Im lauen Bad der Lilie vermählt
Und beide dann mit offnem
Flammenfeuer
Aus einem Brautgemach in's andere
gequält.
Erschien darauf mit bunten Farben
die junge Königin im Glas,...«
(1038-1047).
Im übrigen beschäftigte sich Goethe schon als Student mit der Humunkulus-Thematik (17).


Weitere Entwicklung

Daß Goethe sich auch mit psychischen Phänomenen bzw. Erkrankungen beschäftigte, ist bekannt (2,7,10,21,23, 26-29). In der Zeit von 1768 bis 1770, während seiner Krankheit und Rekon­valeszenz in Frankfurt, las Goethe u. a. die Schriften von Paracelsus (1). W. Schadewaldt (23) wies darauf hin, daß schon in der Frankfurter Advokatenzeit der »Seelenarzt« Dr. Zimmermann Goethe auf Hippokrates verwiesen habe, als »Muster, wie der Mensch die Welt anschauen und das Gesehene, ohne sich selbst hineinzumischen, überliefern sollte« (12). Es ist also anzunehmen, daß Goethe mindestens auch die Schriften des Hippokrates kannte, der u. a. Beschreibungen über Epilepsie, Postpartum-Psychose, toxisch infektiöse Geistesstörungen und Gemütser­krankungen verfaßte. Berühmte grie­chische und römische Ärzte sowie führende Ärzte des 17. und 18. Jahr­hunderts lieferten bereits scharfsinnige klinische Beschreibungen psychiatrischer Krankheitsbilder.

Goethes Umgang mit vielen Ärzten, mit denen er sich vermutlich auch über seelische Erkrankungen besprach, ist bekannt, z. B. mit dem Hofmedicus C. W. Hufeland und u. a. auch mit dem Mitbegründer der modernen Gynäko­logie und Ordinarius der Geburtshilfe, dem Klinikdirektor der Universität von Dresden, Karl Gustav Carus, welcher u. a. auch ein grundlegendes Werk über die Psychologie und ein Buch »Versuch einer Darstellung des Nervensystems« verfaßte. Carus veröffentlichte sogar 1835 »Briefe über Goethes Faust« (6). Der mit Goethe befreundete Arzt J. G. Langermann war Direktor der Psychia-

trischen Anstalt St. Georgen und refor­mierte im Auftrag des preußischen Staatskanzlers Hardenberg die Psych­iatrischen Anstalten (18). So hatte Goethe Dr. Zimmermann, dem Goethe einige Seiten in »Dichtung und Wahrheit« widmete und den Eissler als scharfsinnigen Psychotherapeuten bezeichnet (7), Szenen aus seinem Urfaust bereits in Frankfurt vorgelesen, wie Zimmermann am 25. Januar 1776 mitteilte (14).

Die Faustforschung hat Zusammenhänge zwischen Goethes engem Kontakt mit dem Hofmedicus C. W. Hufeland und seinen Schriften und der um 1800 entstandenen Szene »Vor dem Tor« und der um 1780 aufgezeichneten »Hexenküche« des Faust entdeckt. Goethe kannte Hufelands heilkundli­che Ansichten sehr genau (8, 19, 20). Ein Schüler Hufelands, G. von Brühl-Cramer, schuf den Begriff Alkoholismus (5). Wie intensiv sich Goethe schon als Student und auch späterhin mit dem Stand der verschiedenen Wissenschaften seiner Zeit auseinandersetzte, beschreibt O. Krätz sehr eindrucksvoll (17).

Eissler stellt fest, daß »wir mit Sicherheit sagen können, daß Goethe... mit dem Problem der Psychotherapie beschäftigt war... Das Problem taucht in den unterschiedlichsten Zusammenhängen auf, wobei der bemerkenswerteste Fall der des Harfners in »Wilhelm Meisters Lehrjahre« ist. In all den anderen Werken außer »Lila« wird die geistige Verwirrung - explizit oder implizit - aus dem Schicksal der betreffenden Person hergeleitet... In dem Stück entwickelt sich Dr. Verazio (nach Eisslers Ansicht Goethe darstellend) zum Therapeuten, und Goethe - wie in der Plessing-Episode, die zehn Monate später stattfinden sollte - rät zu einer Therapie« (7).

Schon von seinem »Werther« bezeugt Goethe, es sei eine Sache, die auch den Arzt angehe; er habe hier »das Innere eines kranken Jugendlichen Wahns« dargestellt und diese Seite der Leiden »wollen wir dem Arzt überlassen« (12).

Erinnert sei daran, daß Goethes Vater der Vormund von Dr. Balthasar Johann David Clauer (1732-1796) war. Clauer hatte 1735 seinen Vater und 1750 seine Mutter verloren. Goethes

Vater hatte der Mutter des Jungen ver­sprochen, daß er ihren Sohn nicht im Stich lassen werde. Clauer hatte mit seinem Jurastudium Erfolg und promovierte 1753 zum Doktor der Rechte, 1755 aber erschien er mit seinem Diener in Goethes Haus und lebte dort fortan mit wenigen Unterbrechungen bis 1783. Clauer litt offenbar, wie Eissler meint, an einer schrittweise sich verschlimmernden schizophrenen Psychose. Goethe lebte also als Junge viele Jahre Seite an Seite mit einer Art älterem Bruder, welcher an einer Psychose erkrankt war (7).

Goethe schildert uns Clauer in »Dichtung und Wahrheit«:

»...Ein junger Mann von vielen Fähigkeiten, der aber durch Anstrengung und Dünkel blödsinnig geworden war, wohnte als Mündel in meines Vaters Haus, lebte ruhig mit der Familie und war sehr still und in sich gekehrt, und wenn man ihn auf seine gewohnte Weise verfahren ließ, zufrieden und gefällig. Dieser hatte seine akademischen Hefte mit großer Sorgfalt geschrieben und sich eine flüchtige leserliche Hand erworben. Er beschäftigte sich am liebsten mit Schreiben und sah es gern, wenn man ihm etwas zu copiren gab; noch lieber aber, wenn man ihm dictirte, weil er sich alsdann in seine glücklichen akademischen Jahre ver­setzt fühlte. Meinem Vater, der keine expedite Hand schrieb,... konnte nichts erwünschter sein, und er pflegte daher,... diesem jungen Manne gewöhnlich einige Stunden des Tages zu dictiren. Ich fand es nicht minder bequem, in der Zwischenzeit alles, was mir flüchtig durch den Kopf ging, von einer fremden Hand auf dem Papier fixirt zu sehen, und meine Erfindungs- und Nachahmungsgabe wuchs mit der Leichtigkeit des Auffassens und Aufbewahrens« (12).

Goethes Interesse an endogenen Psychosen (man denke z. B. an die Gestaltung der Szene, in der Gretchen im Kerker geschildert wird) bzw. allgemein an seelischen Erkrankungen dürfte von Jugend an groß gewesen sein. Nicht zuletzt ist an Goethes Dichterfreund J. M. R. Lenz zu denken, der an Schizophrenie erkrankte, wodurch Goethes Interesse an psychischen Erkrankungen und deren Genese und Behandlung verstärkt worden sein dürfte.


Fundamenta Psychiatrica
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