Fundamenta Psychiatrica
© F.K. Schattauer Verlagsgesellschaft mbH (1995)
Originalarbeit

R. Tiedemann Zu Goethes »Auerbachs Keller«

Die Auerbachs-Keller-Szene aus Faust I unter psychopathologischen Gesichtspunkten: Alkoholrausch, Alkoholismus und Delir*

G

oethe: »...fand man jeden Abend den Großvater mit be­haglicher Geschäftigkeit

Schlüsselwörter
Goethe, Faust, Auerbachs Keller, Psychopathologie, Alkoholrausch, Alkoholismus, Delirium tremens

Zusammenfassung
Goethe beschäftigte sich nicht nur mit der Medizin. Insbesondere psychische Erkrankungen hatten Goethes Interesse gefunden, nicht zuletzt durch den in Goethes Kindheitsjahren mit ihm in seinem Elternhaus lebenden, an einer Psychose erkrankten Dr. Clauer, einem Mündel von Goethes Vater. Clauer war für Goethe über Jahre quasi eine Art älterer Bruder, den er auch in »Dichtung und Wahrheit« schildert. Goethe pflegte später u. a. auch Umgang mit namhaften Ärzten, die sich um die damalige Psychiatrie verdient gemacht hatten. Goethes offenbare Kenntnis der damaligen Psychopathologie findet u. a. einen deutlichen Niederschlag in der Gestaltung der Auerbachs-Keller-Szene.

Keywords
Goethe, Faust, Auerbachs Keller, psychopathology, drunkenness, alcoholism, Delirium tremens

Summary
Goethe was not only engaged in poetry and natural science but also in medicine. Especially, he was interested in psychic illness. This interest has been caused by Dr. Clauer, a ward of his father, who had fallen ill with psychosis and who had lived for years in the house of his parents, when Goethe was a child. And that is the reason why he has been a kind of eider brother for him all the years, whom he describes also in "Dichtung und Wahrheit". Later on Goethe acquainted with considerable doctors, who had determined the psychiatry of that time. Goethe's knowledge of psychopathology is clearly reflected in the arrangement of the "Auerbachs-Keller-Szene".

eigenhändig die feinere Obst- und Blumenzucht besorgend... das Sortieren der Zwiebeln von Tulpen, Hyazinthen und verwandten Gewächsen, sowie Sorge für Aufbewahrung derselben überließ er niemandem... wie emsig er sich mit dem Okulieren der verschiedenen Rosenarten beschäftigte...« Wolfgang besuchte gerne den Großvater und dessen Garten und ließ sich zu kindlichen Naturstudien anregen (17): »... Schon seit meinen frühesten Zeiten fühlte ich einen Untersuchungstrieb gegen natürliche Dinge... daß ich als Kind Blumen zerpflückt, um zu sehen, wie die Blätter in den Kelch, oder auch Vögel berupft, um zu beobachten,wie die Federn in die Flügel eingefügt waren...« (12).


Der Student Goethe


Goethes Naturforschungsaktivität erstreckte sich nicht nur auf die Botanik und Zoologie, sondern u. a. auch auf Chemie, Physik und insbesondere die Medizin. »Der Vater bereitete Wolfgang selbst auf dessen juristisches Studium vor und dies außerordentlich erfolgreich, so hatte Goethe dank des »Vorstudiums« auf einen Teil der juristischen Vorlesungen verzichten können, was ihm die Entfaltung vielseitiger, manchmal allzu vielseitiger privater Aktivitäten ... gestattete (17).

Damals war es üblich, daß Studenten in gastfreien Privathäusern einen regel-mäßigen Mittagstisch abonnierten, wo-



Niederschrift eines am 28. November 1992 in der Klinik für Psychiatrie der Universität Heidelberg gehaltenen Vortrages. Dieser Vortrag wurde in kürzerer Form zudem gehalten anläßlich des Treffens der »Münchner Schopenhauer-Runde« in Bamberg 1992.

bei der Gastgeber, dessen Küche aller­dings entlohnt wurde, zusammen mit seinen studentischen Kostgängern so etwas wie eine kleine und manchmal auch wissenschaftliche Gemeinschaft bildete. Im Oktober 1765 schrieb Goethe, daß er »bei Hofrat Ludwig den Mittagstisch hatte. Er war Medikus, Botaniker, und die Gesellschaft bestand... in lauter angehenden Ärzten. Ich hörte nun in diesen Stunden gar kein anderes Gespräch als von Medizin...«. »Die medizinische Fakultät glänzte überhaupt vor den übrigen..., und so zog mich der Strom dahin...« (17).

So besuchte Goethe z. B. auch Vorlesungen des berühmten F. J. Gall,

dessen »Lokalisationslehre« wegweisend wurde (17). Goethe richtete sich sogar schon in seiner Studentenzeit ein erstes Labor ein und experimentierte fleißig (17). Bezüge zur Faust-Dichtung kann man kaum übersehen. Goethes anfänglich alchimistische, später chemische Studien fanden in seiner Faust-Dichtung durchaus ihren Niederschlag, so z. B. in der Szene »Vor dem Tor«, in der Goethe in denVersen 1038-1047 »alchemistisch« die Darstellung von giftigen Antimonpräparaten schildert (17):

»Der, in Gesellschaft von Adepten, Sich in die schwarze Küche schloß, Und, nach unendlichen Rezepten, Das Widrige zusammengoß.


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Fundamenta Psychiatrica 1995; 9:20-24