Im Eingangsmonolog der Erichtho ist der wesentliche Grundthemenbereich der Szene Klassische Walpurgisnacht enthalten: Gleich mit der Erwähnung, in welcher Nacht und wo das Geschehen symbolisch spielen wird, kann man die ödipale Grundthematik ahnen, denn ein Jahr zuvor hatte Cäsar bereits den Rubikon überschritten und Eissierweist daraufhin (Eissler 1983, 364), daß Plutarch (den Goethe gelesen hatte) schildert: in der Nacht vor dem Übergang über den Rubikon soll Cäsar einen schrecklichen Traum gehabt haben: es war ihm als ob er mit seiner Mutter verbotenen Umgang triebe". Auch Goethe, als er der Besteigung des Brocken gedachte, eine Art Rubikon in seinem Leben, hatte einen schrecklichen Traum von seiner Mutter. Doch Cäsars Traum war offenkundig ein unverhüllter, ein erfolgreicher" Inzesttraum" (Eissler 1983, 364).
Wie Eissler zuvor sehr plausibel darlegt, schrieb Goethe in der Nacht auf den Jahrestag (ebenfalls also ein Jahrestag, wie oben im Monolog für Cäsar erwähnt) seiner Brockenbesteigung einen Vierzeiler (Eissler 1983, 352):
Wie einst Titania im Traum und Zauberland Claus Zetteln in dem Schoosc fand Sollst du erwachend bald für alle deine Sünden Titanien in diesen Armen finden.
Charlotte v. Steins Sohn kommentierte diese Verse später als Traum Goethes. Eissler legt dar, daß dieser Vierzeiler seine endgültige Form erst viele Jahre später in der Walpurgisnacht und dem Walpurgisnachttraum erhielt Dieser Vierzeiler stelle einen Traum im Traum dar (Eissler 361). Eissler stellt eine Beziehung zum Sommernachtstraum Shakespeares dar, in dem er die Menstruation als latenten Kern des Stückes sieht und meint in bezug auf Goethe, der Traumvierzeiler könne bedeuten:
daß der Vierzeiler auf ein Kindhcitscrlcbnis bezogen ist, bei dem der kleine Junge (Goethe) einstmals nach dem Erwachen bei seiner Mutter eine schockierende Entdeckung machte. Aus dem Kontext ergibt sich ... die Rekonstruktion, daß die Beobachtung etwas mit Menstruation zu tun hatte. Der Traumvierzeiler würde dann bedeuten: 'Es ist nicht wahr, daß ich jemals aus dem Schlaf erwachte und zu meinem Entsetzen bemerkte, daß meine Mutter blutete.' (Eissler 1983, 364 f)
Eissler meint weiterhin, daß Goethes hier beschriebene Kastrationsängste auch in Goethes Iphigenie vorkommen, in der Orest sagt:
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so nehm' ein Gott von meiner schweren Stirn den Schwindel weg, der auf dem schlüpfrigen, mit Mutterblut besprengten Pfade fort mich zu den Toten reißt. Er trockne gnädig die Quelle, die, mir aus der Mutter Wunden entgegen sprudelnd, ewig mich befleckt. [Hervorhebung vom Autor]
Dazu meint Eissler hier sind wir wieder in die Atmosphäre der Titania-Verse versetzt"(Eissler 371).
Blutgetränkter Boden wird ebenfalls beschworen im Eingangsmonolog der Szene Klassische Walpurgisnacht, Pharsalische Felder:
Erichtho: Zum Schauderfeste dieser Nacht, ... (7005) Der Boden haucht vergoßnen Blutes Widerschein (7026) [Hervorhebung vom Autor]
Eisslers Interpretationsansätze über Goethes Kastrationsängste haben, so meine ich, auch für die Szene Klassische Walpurgisnacht ihre Gültigkeit. Nicht zuletzt deshalb kommen ja auch in dieser Szene der Harz und die Brockenbesteigung als Thema wieder vor. Auch hier und in dieser Form findet der ödipale, kindliche Wunsch Goethes bzw. Fausts eine Besteigung im wohl auch sexuell übertragenen Sinne durchführen zu wollen, seinen Niederschlag, verbunden mit entsprechenden Ängsten.
Ähnlichkeiten und Bezüge mit der Hexenküche und der Walpurgisnacht und dem Walpurgisnachttraum sowie der Klassischen Walpurgisnacht hat die Faust-Forschung vielfach aufgezeigt (Schöne 1994,342,347 u. 521; s.a. Eissler 1983, 353; insbes. Scholz 1982,183; Trunz 1996, 634).
Ein Mantel als Goethes Fetisch?
Eissler hat sinnvolle Überlegungen zu einer vermuteten Störung von Goethes Körperschema ausgeführt. So stellt er bezüglich des Gefühles von seelischer Kastration bei Goethe fest, daß in Goethes Wilhelm Meister (welcher starke autobiographisch Züge habe) ein Mantel Fetisch-Charakter habe. Dort stelle das Kleidungsstück die körperliche Unversehrtheit sowohl des Knaben als auch der Mutter symbolisch wieder her.
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