scharf an der bewußten Entdeckung vorbeischlitterte, hilft Eisslers psy­choanalytische Studie über Goethe weiter. Eissler meint hierzu bzgl. der Arbeit an Wilhelm Meister:

Goethe mag in einen Zustand erhöhter Erleuchtung gewesen sein, als er den frühen Wilhelm Meister schrieb. Natürlich zeigten sich der Odipus-Konflikt und die vorgenitalcn Phasen nicht in ihrer rohen Gestalt, aber die Entstellung fand auf einem Niveau statt, auf dem die Abwehr weit milder war, als 27 Jahre später [Eissler meint die Niederschrift von Dichtung und Wahrheit]. Mit anderen Worten: wenn jemand nichts vom Odipus-Komplex wüßte, könnte der dessen Existenz nicht aus der Lektüre von Dichtung und Wahrheit erschließen, aber im frühen Wilhelm Meister liegt die Schutzhülle so nahe bei dem Ver­drängten, daß das Verdrängte wie durch einen dünnen Schleier angeschaut werden kann. (Eissler 1985, 828)

Letzteres können wir offenbar auch in bezug auf die Klassische Walpurgsnacht und Goethes dortige Gestaltung des Ödipus-Komplexes sagen. Im Gegensatz dazu läßt die ausführliche und deutliche Darstellung des Besuches von Mephisto bei den Phorkyaden allerdings sehr klar erken­nen, daß Goethe sich der Außerordentlichkeit seiner Entdeckung des Unbewußten und einiger seiner Gesetze sehr bewußt war. Goethe war sich auch der Tatsache bewußt, daß er, würde er sich diesbezüglich (sei­ner Erkenntnisse) nicht vor seinen Zeitgenossen verstecken, er sie erheb­lich erschrecken würde (s.u. gegen Ende dieser Arbeit), vielleicht wie Mephisto durch Darstellung als Phorkyade die Teufel im Höllenpfuhl (7965 bis Ende Mephistos Auftritts in der Szene 8033)?

Faust-Ödipus-Odysseus

Goethe bzw. Faust spielt mehrere Rollen nach z.B. Ödipus und Odys-seus. Entsprechend Ödipus steht Faust zunächst vor den Sphinxen (s. a. Schöne 1994, 536, 539):

Faust herantretend...
Auf Sphinxe bezüglich
Vor solchen hat einst Ödipus gestanden; (7185)
Auf Sirenen bezügl.
Vor solchen krümmte sich Ulyß in hänfnen Banden;
Auf Ameisen bez.
Von solchen ward der höchste Schatz gespart;
Auf Greife bez.

Von diesen treu und ohne Fehl bewahrt.
Vom frischen Geiste fühl' ich mich durchdrungen,
Gestalten groß, groß die Erinnerungen. (7190)

Die obigen Zeilen sind übrigens quasi Goethes „Programm" der Szene, wie noch deutlich werden wird, so z. B. daß der Leser mit der List und Erzählkunst eines Odysseus konfrontiert werden wird (wie mit der eines Reineke-Fuchs? s. Eissler 1985, 1639). Der Verdacht, daß Goethe sozusagen der „Reineke Fuchs der Psychoanalyse" war, wurde schon früher geäußert (Tiedemann 1996). Daß Goethe bewußt Doppeldeutig­keiten (z.B. in „Alexis und Dora", Schöne 1982) oder insbesondere auch Rätsel, die, wenn gelöst, erst das weitergehende Verständnis des Werkes zu erschließen erlauben, einbaute, ist nicht neu (s. Tiedemann 1986).

Faust fragt dann die Sphinxe ob sie Helena gesehen hätten und diese antworten:

Von Chiron könntest dus erfragen; (7199 ff) ... Wenn er dir steht so hast du's weit gebracht.

Und kurz darauf stellt eine der Sphinxen klar, daß dies ein Rätsel war:

Kannst du den hohen Chiron finden, (7213f) Erfährst du was ich dir verhieß

Chiron, einer der Zentauren der griechischen Sage, u. a. ein Heldenerzie­her, ist zugleich auch eine Vaterimago (Scholz 1982,171) bzw. Lehrer. Es sei hier daran erinnert, daß anfänglich Goethes Vater für Goethe viele Jahre der Lehrer war. Fausts Identifizierung mit Chiron (dargestellt indem Faust auf Chiron reitet) beinhaltet, daß Faust somit auch einen großen Penis besitzt, bzw. Chiron ist als Symbol eines großen Penis deut­bar.

Das Sphinxrätsel

„Wenn er dir steht so hast du's weit gebracht" (7201), läßt sich somit deuten als: wenn Faust eine Erektion habe, habe er es weit gebracht be­züglich des Wunsches Helena, die gesuchte Mutterimago, (innerlich) zu


332

333