Die vorliegende Arbeit versucht darzulegen, daß Goethe nicht nur was an Piquen vorkommt" von den besonderen Gegenständen abgerückt hat, und daß Goethe nicht nur Teile von ihn beschäftigenden damaligen Theorien dichterisch und fast unkenntlich in die Szene einfügte, sozusagen in klassischen griechisch-römischen Gewändern und Landschaften auftreten läßt, sondern vieles von ihm Erlebtes und insbesondere viele Begebenheiten seiner Kindheit und seiner Familie. Deren Mitgliedern verleiht er, einschließlich seiner eigenen Person, jeweils klassische Namen (oder auch andere der Mythologie entnommene, wie z. B. Kabiren), die zu ihrer jeweiligen Funktion und Tätigkeit passen, die Goethe gerade jeweils beschreibt. Zudem teilt uns Goethe in der Szene wichtige von ihm gemachte seelische Entdeckungen mit, so z. B. daß er das ganz allen unbekannt(e)" (8011) (das Unbewußte) entdeckt habe (s.u.). Diese im folgenden bisher ungewöhnliche Interpretation der Szene Klassische Walpurgisnacht möge vorab ein Beispiel verdeutlichen:
So wird Seismos, das personifizierte Erdbeben, jener Alte" genannt. In Dichtung und Wahrheit (Goethe 3, 14) nennt Goethe seinen Vater der Alte". Diese Deutung wird aber erst verständlich, wenn man Goethes Beschreibung des von seinem Vater initiierten und unter dessen Regie und Mithilfe durchgeführten
Hausumbau des Goethe-Elternhauses
in Beziehung setzt zu den Versen von Seismos und den ihn beobachtenden Sirenen und Sphinxen. Um dies zu verdeutlichen, sei zunächst hier Goethes Schilderung des Hausumbaues, der sehr schwierig und skurril ablief, wiedergegeben. Da damals bei Neubauten oder Renovierungen (außer dem ersten Stockwerk gegenüber dem Parterre) die höheren Stockwerke nicht mehr Grundfläche aufweisen durften als das jeweils darunterliegende, Goethes Vater aber die Grundfläche des obersten alten Stockwerkes für sämtliche Stockwerke beibehalten wollte, bediente er sich der Ausflucht:
die oberen Teile des Hauses zu unterstützen und von unten herauf einen nach dem anderen wegzunehmen, und das Neue gleichsam einzuschalten, so daß, wenn zuletzt gewisser-
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maßen nichts von dem alten übrigblieb, der ganz neue Bau noch immer für eine Reparatur gelten konnte [Anm. d. Autors: vgl. Vers 7575 bis 7577). Da nun also das Einreißen und Aufrichten allmählich geschah, so hatte mein Vater sich vorgenommen, nicht aus dem Hause zu weichen, um desto besser die Aufsicht zu führen und die Anleitung geben zu können: Denn aufs Technische des Baues verstand er sich ganz gut; dabei wollte er aber auch seine Familie nicht von sich lassen. Diese neue Epoche war den Kindern sehr überraschend und sonderbar. Die Zimmer, in denen man sie oft enge genug gehalten und mit wenig erfreulichen Lernen und Arbeiten geängstigt, die Gänge, auf denen sie gespielt, die Wände, für deren Reinlichkeit und Erhaltung man sonst so sehr gesorgt, alles das vor der Hacke des Maurers, vor dem Beile des Zimmermanns fallen zu sehen, und zwar von unten herauf, und indessen oben auf unterstützten Balken gleichsam in der Luft zu schweben und dabei immer noch zu einer gewissen Lektion, zu einer bestimmten Arbeit angehalten zu werden; dieses alles brachte eine Verwirrung in den jungen Köpfen hervor, die sich so leicht nicht wieder ins Gleiche setzen ließ. Doch wurde die Unbequemlichkeit von der Jugend weniger empfunden, weil ihr etwas mehr Spielraum als bisher und manche Gelegenheit, sich auf Balken zu schaukeln und auf Brettern zu schwingen, gelassen ward.
Hartnäckig setzte der Vater die erste Zeit in seinem Plan durch; doch als zuletzt auch das Dach teilweise abgetragen wurde, und, ungeachtet alles überspannten Wachstuches von abgenommenen Tapeten, der Regen bis zu unseren Betten gelangte: so entschloß er sich, obgleich ungern, die Kinder der wohlwollenden Freunden, welche sich schon früher dazu erboten hatten, auf eine Zeit lang zu überlassen und sie in eine öffentliche Schule zu schicken. (Goethe 3, 15f)
Das Haus wird also manches Mal wie durch ein Erdbeben erschüttert ausgesehen haben und es ist denkbar, daß Goethes Vater so manches Mal mit Hand angelegt, geholfen hat (eventuell dabei aussah wie eine Karyatide oder ein Atlas, der etwas Schweres trägt?), auf jeden Fall aber, laut Goethe, die Aufsicht geführt hat und Anleitung gegeben hat, bei dem sukzessive erfolgten Abbruch und Neuaufbau (Das Jahr der Grundsteinlegung fällt mit dem Erdbeben von Lissabon (1. Nov. 1755) zusammen (Beutler 1980,33). Goethe hatte als Sechsjähriger in Maurerkleidung den Grundsteinspruch gefällt. Man denke daran wie beeindruckt Goethe ?durch ein außerordentliches Weltereignis ... das Erdbeben von Lissabon" als Kind war, wie er in Dichtung und Wahrheit (Goethe 3,29 f) eindrucksvoll schreibt.
Dies ließe sich dichterisch gut in eine Beschreibung eines Hausumbaues verwandeln bzw. mit einbauen, wobei das Draufsetzen eines Stockwerkes auf ein schon bestehendes wie einen Berg hervorbringen symbolisch bezeichnet worden sein könnte.
Vermutlich war Goethes Mutter zum Zeitpunkt des Hausumbaues wieder schwanger, denn es wird geschildert, daß Seismos ?einer Kreißen-
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