Erlebnisse Reales oder Traumgeschehen waren: bei solchen Fällen gibt Goethe, wenn auch spärlich, so doch konkrete Hinweise innerhalb von DuW, daß es sich offenbar um die Wiedergabe eines oder mehrerer Träume handelt. Als Beispiel kann hierfür das aus zwei Kinderträumen Goethes bestehende Knabenmärchen „Der neue Paris" in DuW gelten (HA Band IX, 51-65). Gleich zu Beginn des ersten Traumes heißt es auf S. 51 in Zeile 9 „mir träumte neulich in der Nacht vor Pfingstsonntag ...". Der zweite Traum wird zunächst so erzählt, als sei es real erlebtes Geschehen, bis dann am Ende des „Märchens" Goethe den Traumhinweis gibt (S. 64 Zeile 26): „... das zweite Abenteuer so gut als das erste ein Traum gewesen: denn ....

Auch zu Ende des zweiten Traumes des Knabenmärchens wird die Beweisführung, daß es sich um einen Traum gehandelt haben muß, durch Überprüfung der Realität mit dem im Traum Gesehenen geführt (Goethe): „... denn von dem Pförtchen findet sich überhaupt gar keine Spur". (S. 64 Zeile 27).

Was erkannte nun Goethe auf dem Gebiet der Psychoanalyse?

  1. Das Prinzip der Tagesreste (s. o.),
  2. wußte er eine Symptomhandlung zu erkennen und zu deuten (s.o.).,
  3. erkannte er Zusammenhänge zwischen Affekt, Verdrängung und psychischer Energie (s. o.),
  4. stellte Freud bereits fest, daß Goethe erkannte, daß „das Träumen die Fortsetzung unserer Seelentätigkeit im Schlafzustand sei, vereint mit der Anerkennung des Unbewußten" (Freud, Ansprache im Frankfur­ter Goethe-Haus, Studienausgabe Band X, 293). Er zitiert dazu aus Goethes Gedicht „An den Mond", letzte Fassung: „Was vom Menschen nicht gewußt oder nicht bedacht, durch das Labyrinth der Brust wandelt in der Nacht".

Freud erwähnt auch, daß sich Goethe „selbst wiederholt in psychischer Hilfeleistung versucht" hat (an Prof. Plessing), und erwähnt auch ein von Goethe als scherzhaft bezeichnetes Beispiel einer psychotherapeutischen Beeinflussung der Ehefrau von Herder (Brief an Frau von Stein Nr. 1444 vom 05. Sept. 1785). (Freud, Studienausgabe Band X, 293 f.).

Vermuten läßt sich aber darüber hinaus, daß Goethe bereits einige wenn auch nur wenige Prinzipien der Traumarbeit erkannte, vermutlich: Umkehrung, Verschiebung und Verdichtung mindestens.

Schadewaldt vermutete bereits 1959, daß Goethe das Knabenmärchen „Der neue Paris" zum Faust 2 ausgearbeitet habe. Es läßt sich, wenn auch nicht beweisen, so doch plausibel darlegen, daß Goethe mittels Prinzipien der Traumarbeit seine beiden Kinderträume die zusammen das Knabenmärchen „Der neue Paris" in DuW ergeben zum Faust 2 ausgearbeitet haben könnte. Desweiteren läßt sich vermuten, daß Goethe den Faust 2, entsprechend dem Knabenmärchen, zugleich in den verschiedenen Räumen seines Geburtshauses in Frankfurt, Großer Hirschgraben 23, gleichnishaft hat spielen lassen. Im Märchen vorkommende Ortsbeschreibungen, die auf sein Geburtshaus weisen, sind ebenso wie Handlungsabläufe des Märchens im Faust 2 in gleicher Abfolge wiederzuerkennen, wobei Prinzipien von Traumarbeit Anwendung gefunden zu haben scheinen (Tiedemann 1986).

Damit stellt sich nun die Frage, ob Goethe uns irgendwo Hinweise hinterlassen hat, auf welche Weise es ihm eventuell gelungen ist, Prinzipien der Traumarbeit zu erkennen? Dies tut er m. E. am Ende des aus zwei Kinderträumen bestehenden Knabenmärchens „Der neue Paris". Goethe teilt uns mit (HA Band IX, 64) wie er immer wieder als Kind versuchte, die im Traum gesehenen Dinge in der Realität doch noch aufzufinden bzw. den Ort aufzusuchen:

„Sobald mirs nur irgend möglich war, ging ich wieder zur „schlimmen Mauer", um wenigstens jene Merkzeichen im Gedächtnis anzufrischen und das köstliche Pförtchen zu beschauen. Allein zu meinem größten Erstaunen fand ich alles verändert. Nußbäume ragten wohl über die Mauer, aber sie standen nicht unmittelbar nebeneinander. Eine Tafel war auch eingemauert, aber von den Bäumen weit rechts, ohne Verzierung, und mit einer leserlichen Inschrift. Eine Nische mit einem Brunnen findet sich weit links, der aber jenem, den ich gesehen, durchaus nicht zu vergleichen ist, so daß ich beinahe glauben muß, das zweite Abenteuer sei so gut als das erste ein Traum gewesen: denn von dem Pförtchen findet sich überhaupt gar keine Spur.

Das einzige, was mich tröstet, ist die Bemerkung, daß jene drei Gegen-

186
187