dies weder auf unsere Gesinnungen noch auf unser Betragen den mindesten Einfluß".

Die oben zitierten letzten Zeilen des Traumes können wohl als Goethes Wunschdenken im Traum gedeutet werden: Lili Schönemann möge ihm sein Fortbleiben an ihrem Geburtstag, seine Flucht in die Schweiz, verzei­hen.

Die Beschreibung und Deutung von Lilis Symptomhandlung sowie weitere Gedanken Goethes darüber sind nicht Inhalt des vermutlichen Traumes, sondern eingefügt.

Eissler wies darauf hin: „daß Goethe in seinen Briefen und Tagebü­chern Auslassungen über seine Schuldgefühle weitgehend vermied. Das diese existierten, daran kann dennoch nicht gezweifelt werden. Gelegent­liche Bemerkungen Jahre später, wenn die Aktualität der Situation verblaßt war, können dies ebenso beweisen wie das Studium manches seiner Werke. ... Es sieht so aus, daß er sich versagte, sein Schuldgefühl zu zerstreuen, das offenbar als Motor der Kreativität erhalten blieb". (Eissler 1499 f).

In Form des „Gelegenheitsgedichtes" in DuW liegt uns wahrscheinlich etwas derartiges wie von Eissler vermutet vor. Ob Goethe in Form des „Gelegenheitsgedichtes" den in DuW wiedergegebenen Traum als Jugendlicher hatte oder später, eventuell um den Zeitpunkt der Niederschrift in DuW, muß wohl offenbleiben.

Eissler schrieb, daß die erste Schweizer Reise zu dem Zweck unternom­men wurde, der Liebe zu Lili zu entfliehen (Eissler 429). Eissler schildert in seinem Werk auf S. 1196, daß aus den von ihm zitierten Berichten scheine „klar zu sein, daß Lili während ihrer Verlobung einer sexuellen Beziehung (mit Goethe) nicht abgeneigt war ... und daß es Goethe war, der diese Idee zurückwies". (Eissler 1196).

Der Titel des „Gelegenheitsgedichtes" in DuW „Sie kommt nicht" kann im Zusammenhang mit der Schilderung der Symptomhandlung Lili Schönemanns als Hinweis auf eine gestörte Sexualität Lilis aufgefaßt werden. Möglicherweise war mit ein Grund für Goethes Flucht vor Lili Schönemann deren eigene Psychopathologie. Eisslers Deutung der Bezie­hung zwischen Goethe und Lili scheint mir um diese Nuance ergänzbar. (Im übrigen kam Lili Schönemann im Traum durchaus zum Fest, nur

später als Goethe. Auch auf diesen Umstand ließe sich eine Traumdeutung anwenden. (Vgl. Eissler)).

Die Art der Niederschrift des angeblichen „Gelegenheitsgedichtes", des vermutlichen Traumes Goethes, läßt nun erahnen, nach welchen Prinzipien Dichtung und Wahrheit möglicherweise konstruiert wurde, entsprechend dem Titel „Dichtung und Wahrheit": Den hauptsächlich­sten Hinweis, daß es sich um einen Traum Goethes handeln könnte, gibt uns die genaue Kenntnis von Goethes Leben in Form seiner Aufzeichnun­gen und Tagebücher. Nur mit Hilfe deren Kenntnis ist es möglich zu wissen, daß Goethe am Tag des 17. Geburtstages von Lili Schönemann in der Schweiz war. Dies verlangt also Goethe vom Leser. (Es gibt viele Zeugnisse dafür, daß Goethe damit rechnete, daß die Nachwelt sich mit seinen Werken auch den zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlichten, beschäftigen werde (s. auch J. P. Eckermann)). Weiterhin verlangt er, daß jede Zeile seines Textes genau studiert werden muß, um so mögliche Traumhinweise als solche erkennen zu können. Des weiteren: Daß der Leser in Traumdeutung etwas geübt sein muß. Goethe selbst gibt die vermutlich ihm im Traum selbst aufgetretenen Hinweise, daß etwas nicht stimmt, an den Leser in DuW weiter:

  1. Die Bemerkung der Kinder.
  2. Charivari.
  3. Des weiteren die von ihm bei Niederschrift hinzugefügte Bemerkung „Scherze".

Die jeweilige Erwähnung der Meinung der Kinder in verschiedenen Passagen von DuW scheint oft einen entscheidenden Hinweis bei Goethe zu geben. So, daß man meinen könnte, Goethe gäbe in DuW den Meinungen von Kindern nachträglich noch die ihnen gebührende Achtung.

Des weiteren scheint Goethe dort, wo der Leser anhand von Goethes Aufzeichnungen bzw. Tagebüchern kontrollieren könnte bzw. kann, ob es sich bei dem in DuW Dargestellten um Realität oder Traum gehandelt haben könnte nur ganz spärliche Hinweise, daß er Träume einfügt, zu geben. (Siehe „Gelegenheitsgedicht". Daß es sich um einen Traum handeln könnte, wird mit keinem Wort hierbei erwähnt).

Anders bei den in DuW eingefügten Träumen, bei denen es dem Leser nicht möglich ist, feststellen zu können, ob die in DuW berichteten

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