Auf weniger als einer Seite (HA Band X, 104) schildert und deutet Goethe eine Symptomhandlung Lilis. Die Beschreibung dieser Symptomhandlung ist eingefügt in eine angebliche Wiederniederschrift eines angeblich verlorengegangenen „Gelegenheitsgedichtes" (HA Band X, 102-106). Es ist Bestandteil des vierten Teiles des 17. Buches von Dich­tung und Wahrheit. Goethe verfaßte die entsprechenden Seiten am 26. Oktober 1821. Dieser vierte Teil des Werkes (Buch 16-20) erschien erst 1833 nach Goethes Tod.

Der erwähnte Textausschnitt soll im folgenden wiedergegeben werden:

„Das geistreiche Zusammensein lebelustiger Menschen zeichnet sich vor allem aus durch eine Sprach- und Gebärdensymbolik. Es entsteht eine Art Gauneridiom, welches, indem es die Eingeweihten höchst glücklich macht, den Fremden unbemerkt bleibt, oder, bemerkt, verdrieslich wird.

Es gehörte zu Lilis anmutigsten Eigenheiten, eine, die hier durch Wort und Gebärde als Streichen ausgedrückt ist, und welche stattfand, wenn etwas Anstößiges gesagt oder gesprochen wurde, besonders indem man bei Tische saß, oder in der Nähe von einer Fläche sich befand.

Es hatte dieses seinen Ursprung von einer unendlich lieblichen Unart, die sie einmal begangen, als ein Fremder, bei Tafel neben ihr sitzend, etwas Unziemliches vorbrachte. Ohne das holde Gesicht zu verändern, strich sie mit ihrer rechten Hand gar lieblich über das Tischtuch weg, und schob alles, was sie mit dieser sanften Bewegung erreichte, gelassen auf den Boden. Ich weiß nicht was alles, Messer, Gabel, Brot, Salzfaß, auch etwas zum Gebrauch ihres Nachbars gehörig; es war jedermann erschreckt, die Bedienten liefen zu, niemand wußte was das heißen sollte, als die Umsichtigen, die sich erfreuten, daß sie eine Unschick­lichkeit auf eine so zierliche Weise erwidert und ausgelöscht.

Hier war nun also ein Symbol gefunden, für das Ablehnen eines Widerwärtigen, was doch manchmal in tüchtiger, braver, schätzenswerter, wohlgesinnter, aber nicht durch und durch gebildeter Gesellschaft vorzukommen pflegt. Die Bewegung mit der rechten Hand als ablehnend erlaubten wir uns alle, das wirkliche Streichen der Gegenstände hatte sie selbst in der Folge sich nur mäßig und mit Geschmack erlaubt." (HA Band X, 103-104).

Es ist unschwer erkennbar, daß in den obigen Zeilen Goethe eine Beschreibung und Deutung einer Fehlhandlung bzw. Symptomhandlung Lilis gegeben hat (vgl. „Zur Psychopathologie des Alltaglebens"; Freud, GW IV).

Goethe bezeichnet in dem zitierten Text Lilis Symptomhandlung als das Symbol „für das Ablehnen eines Widerwärtigen", von „etwas Anstößige[m]". Daß es sich dabei um sexuelle Themen gehandelt haben dürfte, bedarf wohl keiner großen Phantasie.

Der Anlaß für das sog. „Gelegenheitsgedicht" war laut Goethe der 17.

Geburtstag Lilis. Dieser sollte angeblich mittags am 23. Juni 1775 in Offenbach gefeiert werden mit Lilis dortigem Eintreffen um die Mittagszeit.

Am Vorabend nun sei überraschend Lilis Bruder George bei Goethe in Frankfurt erschienen und habe ihm mitgeteilt, daß Lili erst verspätet am Tage ihres Geburtstages eintreffen würde. Er, Goethe werde herzlich gebeten ihr verspätetes Eintreffen zu entschuldigen. Goethe versprach dem Bruder, „gerade dieses Unheil solle zum Fest werden".

Goethe schildert dann: „Kaum war er weg, so ging ich mit sonderbarer Selbstgefälligkeit in meiner Stube auf und ab, und mit dem frohen, freien Gefühl, daß hier Gelegenheit sei, mich als ihren Diener auf eine glänzende Weise zu zeigen, heftete ich mehrere Bogen mit schöner Seide, wie es dem Gelegenheitsgedicht ziemt, zusammen und eilte den Titel zu schreiben: „Sie kommt nicht!". Ein jammervolles Familienstück, welches, geklagt sei es Gott, den 23. Juni 1775 in Offenbach am Main auf das Allernatürlichste wird aufgeführt werden. Die Handlung dauert vom Morgen bis auf'n Abend." (HA Band X, 102-103).

Goethe schreibt dann weiter „da von diesem Scherze weder Konzept noch Abschrift vorhanden, habe ich mich oft danach erkundigt, aber nie etwas davon wieder erfahren können; ich muß daher es wieder aufs Neue zusammendichten, welches im allgemeinen nicht schwerfällt."

Der Schauplatz des angeblichen „Gelegenheitsgedichtes" ist d'Orvilles Haus und Garten in Offenbach. Das ganze Haus einschließlich der Domestiken bereitet ein Fest vor. Es erscheint indessen ein Bote, der mitteilt, daß die erwartete Dame nicht eintreffen werde. Als der Hausherr die ihm überreichte Depesche liest, „sinken die Arme, die Papiere fallen zu Boden, er ruft: Laßt mich zum Tisch! Laßt mich zur Kommode, damit ich nur streichen kann." (HA Band X, 103).

Goethe meint dazu erläuternd: „Wenn der Dichter nun also dem Hausherrn diese Begierde zu streichen, eine uns zur Natur gewordene Gewohnheit, als Mimik aufgibt; so sieht man das Bedeutende, das Effektvolle; denn indem er alles von allen Flächen herunterzustreichen droht, so hält ihn alles ab, man sucht ihn zu beruhigen, bis er sich endlich ganz ermattet in den Sessel wirft". (HA Band X, 104).

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