Goethes Deutung einer
Symptomhandlung Lilis
in „Dichtung und Wahrheit"*


Rolf Tiedemann

Der Autor erinnert an eine Textstelle in „Dichtung und Wahrheit" (DuW), aus der hervorgeht, daß Goethe eine Symptomhandlung von Lili Schönemann als solche erkannte und psychoanalytisch deutete. Die Beschreibung und Deutung dieser Symptomhandlung ist eingebettet in ein angebliches „Gelegenheitsgedicht" (von Goethe selbst als „Scherze" be-zeichnet), welches Goethe offenbar in der Nacht zum 17. Geburtstag seiner damaligen' Verlobten Lili als Entschuldigung für ihr zu spätes Erscheinen zum Geburtstagsfest schrieb.

Nachweislich war Goethe aber zu dem angegebenen Zeitpunkt in der Schweiz. Der Autor vermutet, daß es sich bei dem „Gelegenheitsgedicht" um einen Traum Goethes handelt, welcher Goethes Schuldgefühle Lili gegenüber zum Inhalt haben könnte.

Mit der Art der Darstellung dieses vermutlichen Traumes als „Gelegenheitsgedicht" hat sich, nach Ansicht des Autors, Goethe mit dem Leser von DuW einen „Scherz" erlaubt.

Anhand dieses „Scherzes" versucht der Autor einige Gestaltungsprinzipien aufzuzeigen, nach denen Goethe vermutlich „Dichtung und Wahrheit" konzipierte.

Freud schrieb, Goethe sei der Psychoanalyse in manchen Stücken nahe gekommen (Freud 1930). Sicher ist, daß Goethe das Prinzip der Tagesreste in den Träumen erkannte: „... was ich wachend am Tage gewahr

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Für Frau Gabriele Benecke, DPV München.
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Nachschrift eines Referates, gehalten am 29. September 1990 im Elephanten in Weimar anläßlich des 1. Weimarer Treffens der „Münchner Schopenhauer-Runde" nach Öffnung der Mauer.
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