ihre Briefe an Goethe nach dem Zerwürfnis zurückgefordert und vernichtet. Goethes Briefe an Charlotte aber sind oft nur „Zettelgen", die offenbar die Funktion vieler unserer Telefonate hatten.
Betrachten wir z.B. die ersten zwei Jahre nach Goethes Ankunft in Weimar, 1775 bis 17773 die Zeit3 in die auch Cornelias Tod fiel, so ist, abgesehen von der ständigen Beteuerung der Liebe zu Charlotte von Stein, verbunden mit einer andauernden Frustration, von dem, was Goethe damals bewegte, kaum die Rede. Cornelia, aber auch Goethes Werke (in dieser Zeit entstanden ,Die Geschwister' und ,Lila£) kommen praktisch nicht vor. Einen so leeren Briefwechsel kann ich mir in einer analytischen Beziehung kaum vorstellen. Das würde mehr für die oben erwähnte Schutzfunktion Charlottes als Hilfs-Ich sprechen, als für eine Analyse,
Nach König (1981) erwirbt das Kind soziale Kompetenz im Umgang mit angstauslösenden Situationen durch die Interaktion mit seiner Mutter. Dies geschieht vorzugsweise in der zweiten Subphase des Individuationsprozesses, der Übungsphase nach Mahler (1975), die die Zeit vom 10. oder 12. bis zum 16. oder 18. Lebensmonat umfaßt. Dabei entsteht eine innere Objektrepräsentanz von Charakterzügen und Verhaltensweisen der Mutter, eine Mutter-Imago, die König das „steuernde Objekt" nennt und die es dem Kinde möglich macht, Angstsituationen zu bewältigen. Verlaufen diese Interaktionen mit der Mutter unzulänglich, entsteht eine phobische Persönlichkeit, die zur Bewältigung spezifischer Ängste ein steuerndes Ersatzobjekt in der Außenwelt benötigt.
Berücksichtigt man, daß Cornelia Goethe mitten in der Individuationseinübung des Bruders geboren wurde, so darf man annehmen, daß gerade zu der Zeit die Interaktion zwischen Mutter und Sohn dadurch so beeinträchtigt war, daß eine phobische Charakterstruktur entstand.
So suchte der Phobiker Goethe in Frau von Stein primär das steuernde Ersatzobjekt. Sie gab ihm soziale Kompetenz im Umgang mit angstauslösenden Frauen. Damit ergibt sich eine neue Sicht auf die Rolle Charlotte von Steins in Goethes Leben. Ich sehe ihre Funktion primär als steuerndes Ersatzobjekt und nicht als Analytikerin.

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