Tiedemann: Zu Goethes »Auerbachs Keller«

Siebel: »...altes Weinfaß« (Z2307). Es handelt sich dabei wohl gleichzeitig um eine symbolische Andeutung einer regelmäßigen erheblichen Trinkmenge von Alkohol.

Im Urfaust handelt Faust noch selbst in der Szene Auerbachs Keller, z. B. ist er es, der Löcher in den Tisch bohrt und verstopft und dann entsprechend An­weisungen gibt usw... Mephistopheles ist im Urfaust Beobachter. Im Faustfragment und Faust I hingegen wird Faust immer wieder durch Mephistopheles in die Rolle des Beobachters eingewiesen. Faust beobachtet eigentlich das Treiben von Alkoholikern.

Im Urfaust trinken die Zechbrüder und Mephisto zusammen richtigen Wein: Siebel: »...seid Ihr Freunde von einem herzhaften Schluck? Herbei mit Euch!« Mephisto: »Immer zu« (sie stoßen an und trinken) (Urfaust S. 381, Z 29/31). Hingegen im Faustfragment und im Faust I trinken, wenn überhaupt, nach Eintreffen von Faust und Mephisto die Studenten höchstens noch Wein aus ihren Gläsern, bevor Mephisto Wein aus dem Tisch zaubert: Altmayer: »...es lebe der Wein!« (S. 72, Z 2244). Im Faustfragment und Faust I trinken die Zechbrüder und Mephisto sowie Faust zusammen keinen einzigen Schluck. Mephisto: »...statt eines guten Trunks, den man nicht haben kann, soll die Gesellschaft uns ergetzen« (Z2186f).

Da nach Eintreffen von Faust und Mephisto alle Beteiligten der Szene keinen einzigen realen Schluck Alkohol mehr trinken und das Wort Rausch nicht mehr im Fragment und Faust I vorkommt, tritt die Frage auf, ob das ein Hinweis dafür sein könnte, daß Goethe sich bewußt gewesen war, kein reines Rauschgeschehen beschrieben zu haben, sondern stattdessen multiple Phänomene des Alkoholismus, eventuell auch des Alkoholdelirs. Der Wein, der später dann auf Mephistos Geheiß aus den Tischen fließt, ist nicht real. Mephisto mit seltsamen Gebärden: »...der hölzerne Tisch kann Wein auch geben... hier ist ein Wunder, glaubet nur! Nun zieht die Pfropfen und genießt!« (S. 73, Z2283 2287, 2289, und 2290).

Ein Großteil der Szene Auerbachs Keller lebt von einem Symptom, das bei Alkoholdelirien eindrucksvoll zu beob-

achten ist: der Suggestibilität (4,15,25). Während der Präparation der Tische durch Mephisto halten die Zechgesellen das ihnen Versprochene, bei zu­nächst noch vorhandener Kritikfähigkeit, für »Taschenspielersachen« (S. 73, Z 267). Nach einiger Zeit ruft Mephisto dann durch Suggestion bei den Zechbrüdern Halluzinationen hervor, z. B. Wein, der aus dem Tisch fließt, und Wein, der entflammt, wobei bei letzterem die angstgetönte Stimmung eines beginnenden Delirs sichtbar wird (Mephisto warnte vor Verschütten des Weines): Siebel trinkt unvorsichtig, der Wein fließt auf die Erde und wird zur Flamme. »Helft! Feuer! Helft! Die Hölle brennt!« (S. 74, Z229). Ebenfalls durch Suggestion verschwindet die Flamme wieder, indem Mephisto sie bespricht (Z 2300).

Die zu Beginn eines Delirs noch teilweise erhaltene Kritikfähigkeit wäre beschrieben, indem Siebel die Flammen als »Zauberei« bezeichnet (S. 74, Z 2312). Zu dem obigen Zeitpunkt sind spontane Sinnestäuschungen noch nicht in der Szene beschrieben. Diese treten erst später auf, zugleich mit Desorientiertheit (die Zechgesellen wähnen sich in einem schönen Land und sehen Weinberge sowie Trauben). Es ist bekannt, daß Halluzinationen und Illusionen durch Suggestion hervorgerufen und inhaltlich bestimmt werden können bei Deliranten, unter Umständen auch im Anfang und am Ende des Delirs, wo spontane Sinnes­täuschungen noch nicht oder nicht mehr vorhanden sind (4). Auf Mephistos Gebärde mit den entsprechenden Worten »Falsch' Gebild und Wort verändern Sinn und Ort! Seid hier und dort!« (S. 74, Z2313, 2315) halluzinieren die Zechgesellen und sind desorientiert, indem sie sich in einem schönen Land wähnen, Weinberge und Trauben zu sehen glauben. Inwieweit die eben zitierten Verse 2313 bis 2315 eine Theorie enthalten, daß durch optische und akustische Halluzinationen Denkstörungen und örtliche Desorientierung entstehen, wäre medizinhistorisch interessant. Im Urfaust von 1775 fehlen obige Zeilen noch.

Daß Delirante nicht selten Unglück anstellen, indem sie auch zu Waffen greifen und sich oder andere verletzen (4) ist ebenfalls beschrieben. Brander:

»...seht, welche Traube!« (Er faßt Siebel bei der Nase, die anderen tun es wechselseitig und heben die Messer). Regieanweisungen Goethes haben zur Folge, daß, wie bei Deliranten charak­teristisch (4), sie als solche an ihrem Verhalten mit ziemlicher Sicherheit (in dem Falle von den Zuschauerrängen aus) erkennbar sind. Ein weiteres Charakteristikum des Deliranten ist die (relative) Erweckbarkeit aus dem Deli­rium: Wenn man Delirante energisch anredet, kann man sie ablenken (4). Etwa dementsprechend würden die Deliranten in der Auerbachs-Keller-Szene auf Mephistos Geheiß von ihren Halluzinationen abgelenkt und wieder in die Wirklichkeit zurückgeholt. Mephisto: »Irrtum, laß' los der Augen Band...« (er verschwindet mit Faust, die Gesellen fahren auseinander) (S.75, Z2329f).

Auch die Symptomatologie der Ge­dächtnisstörungen wäre im Faust be­schrieben. Wie bekannt, bleiben Erin­nerungen aus der Zeit vor dem Delir meist gut erhalten (4). Dementsprechend erinnert sich z. B. Siebel nach Abklingen seiner psychotischen Symptomatik durchaus an Mephisto: Siebel: »Wo ist der Kerl?« (S. 75, Z 2327). Daß die Erinnerung nach dem Delir zwar vorhanden, bezüglich der deliranten Erlebnisse aber doch in der Regel sehr unvollständig ist, und daß das Erlebte bzw. Gesehene auch nach Abklingen des Delirs in der Erinnerung noch für eine Weile Realitätscharakter hat, bis zur Korrektur bei langsam dann wie­derkehrender Kritikfähigkeit fände den Niederschlag in:
Altmayer: »Ich hab' ihn selbst hinaus zur Kellertüre auf einem Fasse reiten sehen... sollte wohl der Wein noch fließen?«

Siebel: »Betrug war alles, Lug und
Schein«.
Frosch: »Mir deuchte doch als tränk'
ich Wein...«
Brander: »Aber wie war es mit den
Trauben?«
(S. 75, Z 2329-2335).

Daß Delirante gelegentlich nach Abklingen des Delirs sich das Erlebte nicht anders als durch mit eigenen Augen gesehene Wunder zu erklären versuchen, ist beobachtbar: Altmayer: »Nun, sag' mir eins, man soll kein Wunder glauben!« (S. 75, Z 2336).


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