Zwei Seelen wohnens ach! in
meiner Brust, ...

Die Spaltung bei Goethe als narzißtisches Phänomen'

Walfried Linden

In einer Arbeit über „Goethe und seine Schwester Cornelia im Spiegel seiner Frauengestalten" (Linden 1991), habe ich Goethes Psychopathologie im Sinne der „Kassandra-Konfiguration" (Wurmser 1987) als Neurose mit phobischem Kern beschrieben. Dabei wurde für die Genese der Phobie eine Störung der Übungsphase nach Mahler (1978) also eine „frühe Störung" angenommen.

Scholz (1988) hat die narzißtische Symptomatik von Werther und Faust überzeugend dargestellt. Sie prägt Sprache wie Charakterstruktur beider Helden. Werther-Roman und Faust-Drama repräsentieren aber nicht nur Goethes psychische Struktur in einem höheren Grad als andere Werke, sondern sie sind auch repräsentativ für weite Kreise des oberen und obersten Bürgertums über viele Generationen hinweg, (ibd., 217 f.)

Die Geburt der neuen Lyriksprache des Sturm und Drang wertet Eissler (1983, 1985) als erfolgreichen Abwehrmechanismus in Goethes schizophrener Episode von 1767. Scholz geht einen Schritt weiter und sieht schizophrene Symptomatologie als Charakteristikum der bürgerli-chen Gesellschaft seit dem Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus.

Seit dieser Zeit erscheint das bürgerliche Selbst gefährdet durch Ich-Verlust und Fragmentierung und die Identifikationsfiguren vom Sturm und Drang bis zum Dadaismus zeigen gehäuft Depersonalisations-Erscheinungen, diffuse Ängste und große Verletztlichkeit, also Zeichen einer narzißtischen Persönlichkeitsstörung.

* Meinem Sohn David zum 27. Geburtstag.

195