Offenbar wußte Goethe nicht nur psychoanalytisch eine Symptomhandlung als eine solche zu erkennen und zu deuten, er erkannte offenbar sogar Zusammenhänge zwischen Affekt, Verdrängung und psychischer Energie (in DuW als Muskelkraftaufwendung dargestellt).

Goethe bemerkt weiterhin, daß er dieses angebliche „Gelegenheitsgedicht" während der Nacht niedergeschrieben und einem Boten übergeben habe, der es am nächsten Morgen Punkt 10.00 Uhr in Offenbach abgeben sollte. Goethe sei dann „genau mittags gleichfalls in Offenbach" eingetroffen. Man habe ihn im Hause d'Orvilles „empfangen mit dem wunder­lichsten Charivari von Entgegnungen; das gestörte Fest verlautete kaum, sie schalten und schimpften, daß ich sie so gut getroffen hätte; ... nur die Kinder, als die entschiedensten unbestechbarsten Realisten, versicherten hartnäckig: ... es sei überhaupt alles ganz anders gewesen, als wie es hier geschrieben stünde." (HA Band X, 105).

Nun, tatsächlich ist alles ganz anders gewesen, als von Goethe in DuW beschrieben, denn Goethe war am Tag von Lili Schönemanns 17. Geburtstag, wie wir wissen, nicht in Frankfurt oder Offenbach, sondern - in der Schweiz. Goetheforscher Beutler sowie Trunz und andere nehmen an, daß es irgendein anderes Fest im Offenbacher Verwandtenkreise gewesen sei, das Goethe gemeint habe müsse (E. Trunz, HA Band X, 611).

Die Goetheforschung geht offenbar davon aus, daß die angebliche Gelegenheitsdichtung tatsächlich einmal existiert habe (Trunz, HA, 611).

Der Goetheforschung ist es nicht gelungen nachzuweisen bzw. plausi­bel darzulegen, daß Goethe in DuW mit dem geschilderten „Gelegenheitsgedicht" irgendein anderes Fest im Offenbacher Verwandtenkreise gemeint haben könnte.

Fest steht: Goethe war zum angegebenen Zeitpunkt nicht in Frankfurt oder Offenbach sondern in der Schweiz. Von daher müssen wir annehmen, daß er bewußt in DuW die Vorgänge anders schilderte, als sie real gewesen waren. Was könnte ihn dazu veranlaßt haben?

Es fällt zunächst auf, daß in Anbetracht der Tatsache, daß Goethes Abwesenheit an Lilis 17. Geburtstag für die Gesellschaft sicherlich bemerkenswert war, in DuW stattdessen Goethe Lili Schönemann bei der Geburtstagsgesellschaft entschuldigt. Es ist gleichzeitig merkwürdig, daß Goethe nicht selbst das von ihm angeblich verfaßte „Gelegenheitsge-

dicht" vorträgt, sondern dieses Stunden vor seiner Ankunft dort abgegeben wird. Goethe wird dann in DuW von der Geburtstagsgesellschaft mit „Charivari" empfangen. Charivari bedeutete damals: Katzenmusik, ein Hohn- oder Spottständchen, ein verwirrter Lärm (HA Band X, Kommentarteil von Trunz S. 611: Heyse, Handwörterbuch, 1835). Als Kat­zenmusik bezeichnet man gemeinhin disharmonische Klänge, nicht har­monisch Stimmendes. Goethe wurde also mit Mißklängen empfangen. Der Mißklang, die Disharmonie könnte auch bedeuten: Da stimmt etwas nicht.

Damit hätten wir sogar Hinweise, daß das im „Gelegenheitsgedicht" Geschilderte nicht real gewesen sein könnte:

  1. Goethe war in der Schweiz.
  2. Die Kinder behaupten, es sei alles ganz anders gewesen.
  3. Das „Charivari" interpretiert als Symbol für Unstimmigkeit, als Hinweis, daß etwas nicht stimmt.
  4. Goethe bezeichnet in DuW das „Gelegenheitsgedicht" als „Scherze" (HA Band X, 103, Zeile 6).Mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich tatsächlich um einen Scherz, den Goethe sich in DuW mit dem Leser erlaubt. Es handelt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit bei dem „Gelegenheitsgedicht" um einen Traum Goethes.

Dieser Traum wird allerdings so dargeboten, als sei er reales Geschehen gewesen. Handelt es sich bei dem o. g. um einen Traum so wäre der Inhalt u. a. deutbar als Goethes Schuldgefühl in Bezug auf seine Abwesenheit an Lilis 17. Geburtstag. Im Sinne einer Umkehrung ist nicht Goethe derjenige, der sich entschuldigt oder entschuldigt werden muß, sondern Goethe ist derjenige, der Lili Schönemann entschuldigt. Trauminhalt ist vermutlich auch das „Charivari", deutbar als Symbol für Disharmonie bzw. Unstimmigkeit. Den deutlichsten Hinweis geben die Kinder im vermutlichen Traum.

Der von Goethe wohl geschilderte Traum beginnt m. E. in HA Band X, ab Seite 102: „Mit solchen angenehmen Pflichten beschäftigt, sah ich die Sonne untergehen ... als Lilis Bruder George ..." und geht einschließlich bis Seite 106: „Man trug ihr (Lili) alles vor ... Und sie, nach ihrer lieben und süßen Art, dankte mir, wie sie allein nur konnte... Indessen hatte

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