Also Geschwisterliebe bis nahe zum Inzest, wie Goethe recht unverhüllt beschreibt.
Im Oktober des Jahres 1765 kam dann die Trennung der Geschwister durch Goethes Abreise nach Leipzig. Die 12 Leipziger Briefe Goethes an seine Schwester sind bei Eissler Lund Damm ausführlich gewürdigt. Sie zeigen neben Zärtlichkeit Lund Intimität das Bedurfnis Goethes, seine Schwester völlig zu beherrschen, von der vorgeschriebenen Lektüre zu ihrer Bildung bis zu Form Lund Umfang der Antwortbriefe. Die „Arro-ganz Lund manchmal Anmaßung" (Eissler, ebd., S. 81) dieser Briefe gipfelt nach meiner Auffassung im Brief vom 6. Dezember 1765:

.. Sei Stolz darauf, Schwester, daß ich Dir ein Stuck der Aeit schenke, die ich so notwendig brauche. Neige Dich für diese Ehre, die ich Dir antue, tief, noch tiefer, ich sehe gem, wenn Du artig bist, noch eine wenig! Genug! Gehorsamer Diener ..." (WA IV. 1, S. 19).

Bei diesem Besitzanspruch an seine Schwester mußte Goethe ihre Heirat mit Schlosser als nicht wieder gut zu machende Krankung empfin-den. In ,Dichtung Lund Wahrheit' beschreibt Goethe im Riickblick (WA I, 29, S. 99):

„Au allem diesem ist noch eine Wundersames zu offenbaren: in ihrem Wesen lag nicht die mindeste Sinnlichkeit Aufrichtig habe ich zu gestehen, dag ich mir, wenn ich manchmal über ihr Schicksal phantasierte, sie nicht gem als Hausfrau, wohi aber als Abtissin, als Vorsteherin einer edlen Gemeine, gar gem denken mochte."

Das unbewufte Motiv dieser Sichtweise Lund Schilderung ist nur alizu deutlich. Wie Sigrid Damm (ebd., S. 178 f.) schrieb, ist Cornelias Entsinn-lichung, die Leugnung ihrer Weiblichkeit, der verzweifelte Versuch, die Schwester fur sich zu retten, seinen alleinigen Anspruch auf sie zu recht-fertigen.
Gekränkt zog rich Goethe nach der Hochzeit seiner Schwester im November 1773 von ihr zuruck. Ihre Briefe an Goethe in Weimar werden nicht beantwortet. 1st das sadistisches Agieren oder bedarf Goethe der Schwester Cornelia nicht mehr, nachdem er in Frau von Stein eine neue Schwester gefunden hat?
An letztere schreibt er lapidar wenige Tage nach Cornelias Tod im Wochenbett am 8. Juni 1777:

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