Konflikten beobachtet, die er als "Kassandra-Konfiguration" beschrieb. Sie ist durch sechs Hauptfaktoren bestimmt:
1) phobischer Kern mit Affektstürmen und Tabu-Objekten,
2) mythisches Schutzsystem und mythischer Schutzglaube,
3) radikale und unversöhnliche Wertkonflikte und gespaltene Identität,
4) Impulshandlungen oft nahezu ritueller Art,
5) Verleugnung (Blendung) und Umkehrung (besonders vom Passiven
ins Aktive),
6) Mehrschichtigkeit der Kernkonflikte.
Bei der Beschäftigung mit Goethes Leben und Werk drängte sich mir die Erkenntnis auf, daß alle diese Faktoren zumindest andeutungsweise auch in Goethes Biographie zu finden sind. Ich werde im folgenden zeigen, daß die im Titel genannte Problematik einen Bezug in erster Linie zu den ersten beiden Faktoren hat, nämlich den Angstobjekten, Angstsituatio-nen und entsprechenden Schutzmöglichkeiten.
Dabei gehe ich von der Annahme aus, daß Goethes dichterische Behandlung der erwähnten Frauengestalten den Versuch darstellt, ein Kindheitstrauma, das sich auf seine Schwester Cornelia bezog, zu bewäl-tigen.
Wir werden sehen, wieweit diese These trägt. Ist sie berechtigt, sollte sie nicht nur wichtige Züge von Goethes Frauengestalten erklären, sondern auch Deutungsmöglichkeiten für Goethes reales Verhältnis zu Frauen, nicht zuletzt zu Frau Charlotte von Stein, eröffnen. Schon Springer (1926) nannte Goethes Beziehung zu seiner Schwester Cornelia den Schlüssel zu Goethes Liebesleben.

Goethe und seine Schwester Cornelia

Die Beziehung Goethes zu seiner Schwester Cornelia ist sicherlich eine der am meisten erörterten Geschwisterbeziehungen überhaupt. Den Anfang beschreibt Bettina von Arnim nach Erzählungen der Frau Rat Goethe in ihrem Buch , Goethes Briefwechsel mit einem Kinde5 (von Arnim, 1835, S. 418f.):

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