Originalarbeit

Goethes Heilungsschilderungen gehören der Richtung des damaligen therapeutischen Optimismus an. Goethes Darstellungen geben nicht nur ein prominentes Beispiel für eine Prägung literarischer Darstellungen durch wis­senschaftliche Konzepte und Entwick­lungen ab, sondern es zeichnet sich in ihnen, zumindest theoretisch, auch die umgekehrte Möglichkeit eines wissen­schaftlichen Wertes von Literatur ab, nämlich jenes einer Rolle als Populari-sator und Wegbereiter neuer wissen­schaftlicher Strömungen. Goethes Hei­lungsansichten stehen zu psychiatrisch­psychotherapeutischen Konzepten sei­ner Zeit nicht in Widerspruch (21).

Freud stellte fest, daß Goethe bereits erkannte, daß »Träumen die Fortsetzung unserer Seelentätigkeit im Schlafzustand sei, vereint mit der Anerkennung des Unbewußten« (10). Er zitiert dazu aus Goethes Gedicht »An den Mond«, letzte Fassung: »Was vom Menschen nicht gewußt oder nicht bedacht, durch das Labyrinth der Brust wandelt in der Nacht«. Freud erwähnt auch, daß sich Goethe »selbst wiederholt in psychischer Hilfeleistung versucht hat« (an Professor Plessing) und erwähnt ein von Goethe als scherzhaft bezeichnetes Beispiel einer psychotherapeutischen Beeinflussung der Ehefrau von Herder (10, 11) (Brief an Frau von Stein Nr. 1444 vom 5. September 1785).

Wie aus zahlreichen Angaben in Goethes Werk hervorgeht, hat Goethe sich intensiv mit seelischen Erkrankungen und seinen Träumen beschäftigt. Dies zeigt insbesondere die Studie von Eissler über Goethe (7). Eissler weist hier darauf hin, daß Goethe sogar Träume hatte, deren manifester Inhalt in vollendet gestalteten Gedichten bestand (7,27,28). Es zeigt sich weiterhin, daß Goethe auf dem Gebiet der Psychoanalyse das Prinzip der Tagesreste in den Träumen erkannte (26, 27), des weiteren wußte er Symptomhandlungen zu erkennen und zu deuten (9, 26). Zudem erkannte er Zusammenhänge zwischen Affekt, Verdrängung und psychischer Energie (10,12,26,27). Es läßt sich darüber hinaus feststellen, daß Goethe bereits einige, wenn auch nur wenige, Prinzipien der Traumarbeit erkannte, wie z. B. Umkehrung, Verschiebung und Verdichtung (11,26,27). Mittels dieser bereits von ihm erkann-

ten Gesetzmäßigkeiten arbeitete Goethe sogar zwei seiner Träume aus seiner Kindheit (»DER NEUE PARIS, Knabenmärchen«) zu einem Theaterstück aus (22, 27).


Zur Auerbachs-Keller-Szene


Auf Grund des oben Dargestellten scheint die Vermutung gerechtfertigt, Goethe könnte auch bei der Gestaltung der Auerbachs-Keller-Szene erworbenes Wissen über Alkoholrausch, Alko­holismus und Delir angewendet haben (2,13,26, 29).

Die Szene im Auerbachs Keller ist von Goethe einige Male umgearbeitet worden. Sie findet sich zunächst im Urfaust von 1775, dann im Fragment von 1790 und schließlich im Faust I von 1806. Die Szene Auerbachs Keller scheint im Faust I gegenüber der Fassung im Faustfragment fast unverändert, gegenüber der Fassung im Urfaust mit deutlich mehr »psychologischer Verfeinerung« vollzogen (30). Sie gehört zu den ältesten Szenen des Faust (24). Die Übereinstimmungen mit der Faustbuchanekdote sind nicht zufällig (1). Altes Sagengut sind der weinspendende Tisch, der Weintraubenzauber und der Faßritt (24). Dieses tut dennoch einer psychopathologischen Betrachtungsweise keinen Abbruch.

Bleuler berichtet bei der Beschreibung von »Beschäftigungsdelirien« über einen Wirt, der (zu Hause) seine große Zehe für einen Pfropfen hielt, den Zapfendreher hineinschraubte und anfing, daran zu zerren (4). Auch, daß mehrere Halluzinanten das gleiche halluzinieren, beschrieb er: Drei Halluzinanten, die nebeneinander im Bade den nämlichen Fisch halluzinieren, den sie fangen wollen und der von einer Wanne in die andere angeblich springt (gegenseitige Suggestion) (4). Auch das erinnert an die Zechgesellen in Auerbachs Keller, die auf Geheiß gemeinsam Wein aus dem Tisch fließen sehen, dazu Geschmackshalluzinationen haben und später Weintrauben und Wein­berge halluzinieren.

Vor Eintreffen von Faust und Mephisto in Auerbachs Keller wird die »Zeche lustiger Gesellen« beschrieben. Die Namen der Trinker sind sogenannte Biernamen, Studentennamen,

»Frosch« bedeutet z. B. Verbindungs­student im ersten, »Brander« Brandfuchs im zweiten Semester und »Altmayer« bedeutet alter Herr (24). Beut­ler (3) meint, daß die Szene »Auerbachs Keller« die Plattheit und die Leere der Studenten schildere.

Es sind Symptome des Alkoholrausches beschrieben. Im Urfaust findet sich zweimal die Bezeichnung »Rausch« (S. 382, Z 2 und S. 385, Z 1). Die Be­zeichnung »Rausch« findet sich im Fragment und Faust I nicht mehr. Neben psychischen Phänomenen sind körperliche, motorischneurologische Symptome der Alkoholintoxikation be­schrieben. Im Urfaust: Alten: »...ich hab' so eine Probe, ob ich weitertrinken darf (er macht die Augen zu und steht eine Weile). Nun, nun, das Köpfchen schwankt schon« (S. 383, Z 10-12). Im Fragment und im Faust I fehlt die Beschreibung der Gleichgewichts­probe, stattdessen wird eine subjektiv empfundene motorische Verlangsamung beschrieben: Altmayer »...es liegt mit bleischwer in den Füßen« (S. 75, Z 2331).

Euphorie im alkoholischen Rausch wäre beschrieben, indem die vier Zechbrüder singen: »Uns ist ganz kannibalisch wohl, als wie fünfhundert Säuen« (Z2293 bis 2294). Entsprechend fühlt sich der Trunkene des Hoffestes im Faust II, 1. Akt »frank und frei« (Z5264). Mitteilungsdrang und Distanzlosigkeit im alkoholischen Rausch im Sinne einer leichten Enthemmung wäre beschrieben durch »bei einem vollen Glase ziehe ich... den Burschen leicht die Würmer aus der Nase« (S. 70, Z 2174 bis 2176), eine ausgeprägte Enthemmung durch Mephistopheles »Gib' nur erst acht, die Bestialität wird sich gar herrlich offenbaren« (S. 74, Z 2297 bis 2298). Anschließend Mordabsicht Siebeis »Stoßt zu! Der Kerl ist vogelfrei!« (Sie ziehen die Messer und gehen auf Mephistopheles los) (S. 74, Z 2312).

Vielleicht findet sich eine Anspielung auf den sogenannten »Kater« nach Alkoholrausch in »mit wenig Witz und viel Behagen dreht jeder sich im engen Zirkeltanz, wie junge Katzen mit dem Schwanz, wenn sie nicht über Kopfweh klagen, solang der Wirt nur weiter borgt, sind sie vergnügt und unbesorgt« (S. 70, Z 2163/67). Vermutlich als Alkoholiker bezeichnet Mephistopheles den


28/22
Fundamenta Psychiatrica