Das Wiedereinschlafen erfolgt danach selbstverständlich unaufgeschrie-ben. Weiterhin meint später Mephisto: „Ein solch Gebirg in Einer Nacht." (7808) (Von Goethe „Einer" extra großgedruckt wohl als Denk­anstoß für den Leser!) Oreas meint dazu (7818-20):

das Gebild des Wahns, Verschwindet schon beim Krähn des Hahns. Dergleichen Märchen seh' ich oft entstehn, Und plötzlich wieder untergehn.

Hier wird in den Versen darauf hingedeutet, daß das Wahn- (Traum-) gebilde beim Erwachen wieder verschwindet. Thaies meint später zu Homunculus (7946): „Sei ruhig! Es war nur gedacht." Einen ganz be­sonderen und daher von Goethe auch hervorgehobenen (gesperrt ge­druckten), nur einmal in der gesamten Faust-II Dichtung vorkommen­den Traumhinweis enthält diese Szene: dies ist das Wörtchen 'heut' (7442). Wittkowski (s. Schöne 1994, 545) meint und insbesondere auch im Kommentar von Friedrich und Scheithauer (1978, 241) steht hierzu: „wenn dies (heut) auf das Geisterspiel am Kaiserhof geht, dann voll­zieht sich der zweite Akt noch am selben Tage wie der Schluß des ersten Aktes". Wir finden also in dieser Szene den Hinweis dafür, daß mindestens zwei Akte der Faust //-Dichtung innerhalb von maximal 24 Stunden spielen, zum Beispiel in einer Nacht? (s. Tiedemann 1986).

Die Klassische Walpurgisnacht wird mit ihren 1483 Versen von der Faust- Forschung als ein fast in sich abgeschlossenes Drama betrachtet. In der antiken Literatur gibt es keine Walpurgisnacht. Wenn auch die einzelnen Motive der Szene z.T. aus der Antike stammen, so ist doch die Zusammenstellung Goethes eigene Erfindung. Goethe behandelt die Einzelheiten mit Freiheit (Trunz 1996, 632). Entsprechend (7426 ff):

Ich seh', die Philologen
Sie haben dich so wie sich selbst betrogen.
Ganz eigen ist's mit mythologischer Frau;
Der Dichter bringt sie, wie er's braucht zur Schau:

Dazu Goethe auch an anderer Stelle:

Der mythologischen Figuren, die sich hierbei zudrängen, sind eine Unzahl; aber ich hüte mich und nehme bloß solche, die bildlich den gehörigen Eindruck machen. (Goethe 4, Ge­spräche 1830, Dig.-Bib. 31314 Bd. 10, bzw. Goethe-Gespr. Bd. 7,188 f)

Aus germanistischer Sicht beinhaltet die Szene Klassische Walpurgisnacht Fausts Verlangen und Suche nach Helena, ihre Loslösung von der Unterwelt durch Faust (Trunz 1996,628). Der/"««sr-Forschung ist es sehr wichtig, auf die Dreiteilung der Handlung hinzuweisen: Faust, Mephisto und Homunculus gehen in der Szene wie bekannt zunächst getrennte Wege. Die ganze Szene solle aber „als ein ... Zugleich verstanden wer­den"^, z. B. K. Richter u. H. G. Göpfert 1997) und es sei „Das Eingehen ins Element gestaltet: Mephisto bei den Phorkyaden; Faust bei Manto; Ho­munculus bei Galatea (ebd. 826 f). Schöne meint: „auf sehr unterschiedliche Weise ist das (die Suche nach Helena) für jeden der drei (Faust, Mephisto und Homunculus) ein erotisches Abenteuer" (Schöne 1994,526).

Aus psychoanalytischer Sicht zieht sich wie ein roter Faden die ödipale Thematik durch die ganze Szene: Faust sucht „mit sehnsüchtigster Ge-walt"(7438) die Vereinigung mit Helena, einer Mutterimago (dem Äqui­valent der Galatea, „der Mutter Bild" (8386) (s. Eissler 1983, 302, 1630; Scholz 1982,28, 159; Tiedemann 1986).

Mephistoles und Homunculus als alter ego Fausts (Eissler 1716; Scholz 1982, 20, 180, 245; Tiedemann 1986;) haben dabei in der Szene verschiedene Wege und Funktionen, sind aber derselben Thematik zu­gehörig und haben dasselbe Ziel: Faust ist ein Mann vom Ödipuskomplex getrieben, Homunculus ein kleiner Knabe vom Ödipuskomplex ge­trieben und Mephisto stellt symbolisch auf der Bühne hauptsächlich die Pathologie des ungelösten Ödipuskomplexes des erwachsenen Mannes dar (s.u.).

Mittels Mephistos schildert uns Goethe zudem dann, daß er, Goethe, das „ganz allen unbekannt(e)"(8011) entdeckte und Teile seiner Gesetz­mäßigkeiten (sprachlich und durch Handlung und Gebärden dargestellt), was vor ihm niemand beschrieben, kein Dichter gepriesen, kein Bild­hauer oder Maler dargestellt habe (7995 ff). Der Besuch Mephistos bei den Phorkyaden ist als Beschreibung der Entdeckung des Unbewußten und einiger seiner Gesetze leicht deutbar. Wir werden sehen, wie recht Freud tat (Freud 1971b, 293), Goethe mindestens die „Anerkennung" des Unbewußten zuzugestehen.

Bezüglich der Frage, ob Goethe den Ödipuskomplex erkannt hat, oder „nur" ausgezeichnet vorbewußt beschrieben hat und sozusagen haar-


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